GÜNTHER WIRTH

Über das Zeichnen

 

Im Spannungsgefüge von bildnerischer Idee und plastischer Gestaltung ereignet sich die Zeichnung. Gemeint ist die Bildhauerzeichnung, wie man sie einschränkend nennt. Einschränkung heißt hier Spezifikation, ortet die Möglichkeiten des Bildhauers bei der linearen Erkundung der Fläche.

Zwischen Vorspiel, Annäherung und Festschreibung entwickeln sich Beziehungspunkte, die sich mit der Vorstellung des Künstlers treffen, verzahnen und vermischen. Von diesem zu erreichenden Punkt aus setzt die Bildhauerzeichnung als Aktion ein. Sie kann Skizze und Entwurf, aber auch eine ganz für sich stehende lineare Niederschrift sein. Denn der Orte im oben genannten Spannungsgefüge sind viele, zentrale und abgelegene, sichere und unsichere. Und die Zeit und die Erfahrung lehren, dass es Rezepte für das Gelingen nicht gibt. So bleibt die Bildhauerzeichnung ein geistigsinnliches Abenteuer, das aus der Fläche heraus auf räumliche Dimensionen verweist. Freilich ist die Wichtigkeit der Bildhauerzeichnung von Künstler zu Künstler ganz unterschiedlich. Es gibt keine Normen. Im Gesamtwerk von Erich Hauser haben die gezeichneten Blätter ihre Bedeutung. Sie sind aus dem Werk nicht wegzudenken, weil durch sie nicht selten Entwicklungen vorweggenommen wurden, die es vielleicht sonst nicht gegeben hätte. Gerhard Bott schreibt 1990 im Werkverzeichnis III der Plastiken: „Immer schon waren Zeichnungen ein wichtiges Instrument des Künstlers, formale Entwicklungen vorauszunehmen und Entfaltungen durchzustudieren. Bildhauerzeichnungen gehören so zum Werk Erich Hausers wie seine Radierungen und Drucke.“

 

Es handelt sich bei diesen Arbeiten um einen noch ungehobenen Schatz. Seit Jahren schon macht er uns danach lüstern, ihn einmal wenigstens in Teilen ans Licht der Öffentlichkeit zu heben und ihn in einer Ausstellung zu zeigen. Denn immer spielte bisher die Präsentation von Zeichnungen bei Hauser Ausstellungen nur eine marginale Rolle. Stets standen die plastischen Werke im Mittelpunkt. Natürlich liegt auch darin Sinn, denn die Edelstahlplastiken sind auch wenn sie aus einer Werkstatt in Rottweil stammen europäische Spitzenklasse. Eigentlich müssten sie, nimmt man die letzten drei Jahrzehnte plastischer künstlerischer Arbeit ins Visier, als zeitgenössische Weltkunst im Bereich der Skulptur gelten. Wer, so ist zu fragen, hievt sie auf dieses Plateau? Oder könnten etwa deshalb Bedenken entstehen, weil es sich bei Hausers riesiger Werkstatt um das einzeige Künstleratelier handelt, das von der Handwerkskammer zur Lehrlingsausbildung zugelassen ist? Diese und andere Fragen werden bleiben. 

 

Mit Selbstverständlichkeit stellt sich die Frage, warum die Esslinger Ausstellung mit ihrem Premieren Charakter (denn nie zuvor gab es eine Ausstellung der Bildhauerzeichnungen Erich Hausers) erst mit Stücken des Jahres 1962 einsetzt? Dazu muss gesagt werden, dass der damals zwei und dreißig Jährige Bildhauer, der seinerzeit noch in Dunningen lebte und arbeitete, erst in jenem Jahr größere Beachtung der Kunstöffentlichkeit und der Kritik fand, indem man, da wie dort, die urwüchsige Eigenart des Talents entdeckte. Heinz Fuchs, in jenem Jahr und noch lange danach Direktor der Kunsthalle Mannheim, sprach, die künstlerische Arbeit Hausers betreffend, „von der enthusiastischen Produktion einer Form“. Robert Kudielka, Professor für Kunstgeschichte in Berlin und langjähriger Wegbegleiter und Freund des Bildhauers, schrieb in der Rückschau über die Plastiken von 1962/63: „Wie kaum ein anderer Bildhauer verstand es Erich Hauser, Pollock’s verwegener Behauptung „I am Nature“ plastische Realität zu verschaffen. Natur sein, das hieß für ihn, verfahren wie sie und entsprechend sahen die Ergebnisse aus. Das waren nicht bloß wohlgeformte Formationen aus Stahlblech. Nein, die heftige Verschrammung der Oberfläche, die schroffen Kanten und Schnitte, die Risse und die konvulsivische Verwerfung der Volumina diese elementare Pathografie zeugte von einer urtümlichen Gewalt, die sich jählings ins Innere der Körper verballt zu haben schien. Die Wirkung war entsprechend. Wenn diese Findlinge aus Menschenhand auf einem Acker außerhalb des Dorfes aufgestellt wurden, dann schien sogar die Landschaft zurückzuweichen: vor so viel Naturgewalt in Kunstform“. Sah Kudielka in dieser Anfangsphase der Plastiken Naturgewalt in Kunstform, so registrierte sie Peter Iden, der Kunstkritiker der „Frankfurter Rundschau“ als „Gegenbilder“ zur Natur. In späteren Jahren gibt es aber auch Plastiken, die sehr bewusst als „Gegenbilder“ zur Architektur fungieren.

 

Nehmen wir nach all dem Gesagten und Zitierten 1962 als Schlüsseljahr, in welchem ein wunderbarer Neuanfang bisher unbekannte Prioritäten setzte, was sich auch (und gerade) in den Zeichnungen niederschlug. Was war denn vorher gewesen? Hatte Erich Hauser nicht schon am Anfang einer Lehre als Stahlgraveur in seinem Geburtsort Rietheim durch einen glücklichen Zufall im Kloster Beuron Pater Ansgar kennengelernt? Hatte er dadurch nicht schon als Fünfzehn Jähriger Unterricht im Zeichnen und Modellieren genossen? Davon waren die Wochenenden der Jahre 1945 bis 1948 erfüllt. Und jeder, der sich mit Erich Hauser beschäftigt, sieht früher oder später Pater Ansgar vor sich, den er gar nicht kennt und der durch den Bildhauer zu einer legendären Gestalt geworden ist. Dann arbeitet der junge Hauser ab 1949 zwei Jahre in Stuttgart, wo er Abendkurse an der Freien Kunstschule belegt.

 

Dass er sich 1952 in Schramberg als freier Bildhauer niederlässt, wie ein Schild über einer Garage verkündet, die er als Werkstatt gemietet hat, entbehrt nicht der Kühnheit, der im Jahr darauf eine weitere folgt: Erich Hauser gründet drei und zwanzig Jährig eine Kunstschule mit Kursen für Zeichnen, Malen, für Bildhauerei und Metallarbeiten. Die Schramberger Gerüchteküche arbeitete jedoch schnell, so dass Erich Hauser nach Dunningen übersiedelte. Dort passte er sich, um integriert zu werden und ungestört zu bleiben, dem ländlichen Arbeitsrhythmus an. Ab 1958/59 kommt er sich langsam selbst auf die Spur. Die Arbeiten werden abstrakter, endlich völlig abstrakt, ohne dass der Künstler sich bereits auf dem schöpferischen Alleingang befände, den er anvisiert und zu dem er sich jetzt in Dunningen fähig fühlt.

 

So entsteht die Situation des Jahres 1962. Jeder wird ahnen, wie schwer und hart das vorhergehende Jahrzehnt für Erich Hauser war; wie viel an Kraft er investieren musste, um sich in diesem Zeitabschnitt als Künstler und Mensch zu behaupten. Der Künstler bezeichnet seine Blätter zunächst als Werkzeichnungen und sieht sie damit unverblümt als Ideenträger oder Konzepte der Plastiken. Er arbeitet von Anfang an weder mit Kohle noch mit Bleistift, sondern zeichnet wegen der Materialeigenschaften mit Graphit. Aus dem eher vorsichtigen, aber recht frei geführten Linienspiel ergeben sich Formansätze, die scheinbar in der Vereinzelung verbleiben. Für seine Arbeit während der sechziger Jahre also Zeichnungen und Plastiken eingeschlossen hat Erich Hauser formuliert: „Es interessiert mich nicht, wie die Natur zu arbeiten. Mich interessiert es, Formen gegen die Natur zu setzen. Dadurch wird es möglich, die Natur neu zu sehen und zu erleben.“

 

Was bei den Zeichnungen auffällt, ist der enorme kategoriale Abstand zwischen den Blättern und den zu gleicher Zeit entstehenden Plastiken. Die Linienführung wird nie wieder so verhalten sein. Sie entspricht einem tastenden Suchen nach entschiedener Form. Im Jahr darauf wird ein gewaltiger Sprung ins Kraftfeld der Linien sichtbar. Die graphische Konzeption als plastisches Gefüge ist von überraschender Deutlichkeit. Plötzlich ist kategoriale Nachbarschaft zu entdecken. Der Zeichner erarbeitet sich im Jahr 1963, in welchem eine Vielzahl von Blättern entsteht, eine Erweiterung seines Formenschatzes. Plastisches wird ablesbar an der Entwicklung von Rundformen mit Einschnitten, an Dreiecken, die nebeneinander stehen und sich verbinden. Das kubische Vorbild taucht auf, verschwindet wieder, setzt die Einzelelemente neu. Eine ungefügte Elementarform kündigt sich an. Sie lässt Volumen ahnen, ist fähig, Raum zu artikulieren, ja zu verdrängen. Manchmal entstehen hochexplosiv anmutende Berührungen von Ecken und Kanten. Linienfunken stieben. Dann wieder ganz ruhige Nachbarschaften zweier Formen, von denen man noch nicht weiß, ob sie sich je vereinen werden. Es ist ein unglaublich reiches Zeichnungsjahr. Viele der Stücke, die wir in dieser Ausstellung zeigen, waren noch nie in der Öffentlichkeit zu sehen. 

 

Das Zusammendenken und Zusammenfügen geometrischer Flächen, die in sich gebogen sind, bestimmt die Liniensprache Erich Hausers im Jahr 1964. Er hat im Jahr zuvor in der Stuttgarter Galerie Müller ausgestellt, die zu den progressivsten Kunstgalerien in der Bundesrepublik Deutschland zähle, und hat jetzt schon das, was man in der Kunstszene einen „Namen“ nennt. Die werktypischen Zeichnungen beeindrucken durch ihre hohe Flächenspannung, die, sieht man genauer hin, in den Raum übergreift. 

 

Eigenwillig treibt Erich Hauser 1965 sein zeichnerisches Vokabular weiter. Unter seinen vielen Formideen stellt er nunmehr das Runde und das Ovale in den Blickpunkt. Dadurch erhöht sich inhaltlich der Anteil des Sinnlichen innerhalb der Form. Das Spiel dreier halbovaler Formen wirkt absolut sinnenhaft und mag daran erinnern, dass es Zeiten gab, da Erich Hauser die Lust äußerte, einmal erotische Plastiken zu machen was er dann doch unterließ. Aber die Sinnlichkeit des Aufbrechens und Eindringens, des Teilens und Zusammenführens mag man beim Studium der Zeichnung nachempfinden. Wiederum gilt das Beschriebene im Grundsätzlichen auch für die anderen technischen Beispiele des Jahres 1965, das auch in der plastischen Produktion für den Künstler sehr erfolgreich war. Die nationale Anerkennung seines Schaffens ist nunmehr durchgehend. Es ist die Dunninger Zeit, die den Durchbruch bringt.

 

Das Stilprägende des vorwiegend Organischen, das in gefährlich erscheinende Spitzen ausläuft, dauert im Jahr 1966 im zeichnerischen Bereich an. Die Kunstpreise für die plastische Arbeit häufen sich. Dem Kunstpreis der Stadt Wolfsburg folgt der Burdapreis. Die Linie wird in der Folgezeit gespannter. Sie durchschneidet die Fläche und fasst nach Raum. Sie feiert den Triumph ihrer Schönheit und der federnden Eleganz.

 

Durch den Umzug des Künstlers von Dunningen nach Rottweil an den Ort der ehemaligen Saline im Jahr 1969, in welchem Erich Hauser den Großen Preis der X. Kunstbiennale in Sao Paulo erhält, sinkt die Zahl der Zeichnungen rapide ab. Skulptural gesehen, setzen die Jahre der sogenannten Raumsäulen sein, die der Bildhauer mit großer Formphantasie durchspielt und damit erfolgreich Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Aus Formbegegnungs Ideen hinsichtlich von Boden Plastiken findet Erich Hauser zu zeichnerischen Gestaltungen. Die Plastik nimmt in den siebziger Jahren der Zeichnung ein wenig die Luft, weil auch im stählernen Material durch dessen perfekte Beherrschung weitreichende Veränderungen im Formgefüge als prozessuale Vorgänge machbar werden. Die Vorstellungskraft des Bildhauers kommt angesichts der Verfügbarkeit des Stahls ohne zeichnerische Anstöße aus. Dieser neue Umstand dürfte interessant genug sein, um ihn hier festzuhalten. Wird die Zeichnung zum bloßen Übungs oder Lockerungsfeld? Das lässt sich so radikal wohl nicht sagen, aber die Zahl der Zeichnungen bleibt bis in die frühen achtziger Jahre geringer als früher.

Dass die Zeit der Formwölbungen nicht mehr akut ist, der Bildhauer eine schärfere Artikulation anstrebt, um sie bald zu realisieren, wird ablesbar in der Zeichnungen der 80er Jahre. Die diagonale Setzung im Linienablauf, die man schon in den späten Siebzigern beobachten konnte, der immer scharfkeiliger wurde, setzt sich fort. Rauten, Trapeze und Dreiecke wetteifern, mit ihren Spitzen in die Höhe zu steigen. Die zeichnerischen Entwürfe haben auch in dieser Phase nichts Funktionales, wenngleich ihr Erscheinungsbild konstruktiv ist. Konstruktion jenseits des nur Systematischen, Konstruktion als Beweis für Kreativität. Das Filigran der Linien entspricht deren Exaktheit, die phänomenal ist. Aus dem diagonalen In die Höhe steigen in den Zeichnungen, werden in den Plastiken Formen des Schwingens und Schwebens: Stählerne in der Sonne blitzende Vögel können ebenso ausgemacht werden, wie Engel, die ganz ins Zeichenhafte entrückt sind. Man kann auch an Kreuzformen denken, an dem das Leiden nicht mehr möglich ist. Solche gedanklichen Erwägungen in bezug auf die Plastiken weisen darauf hin, dass die Zeichnungen im allgemeinen abstrakter bleiben, weil ihr Ansatz konzeptioneller ist. Aus dem gleichen Ansatz kommen auch die Radierungen.

 

Unabhängig davon, dass in den ersten neunziger Jahren Plastiken entstehen, die immer größer werden, immer weiter nach oben streben, zeichnet Erich Hauser knospenhaft zarte Dinge mit äußerst spitzen Formen, die in die Fläche hineintasten. Neue Verkantungen und Verknotungen im konstruktiven Bereich scheinen erprobt zu werden, aber auch Momente der Zuneigung und Abkehr in einem. Außerdem suggerieren die Formen die Leichtigkeit und auch die Rasanz des Fluges, wie aus den Zeichnungen von 1992 ersehen werden kann. Eine wunderschöne Fortschreibung solcher zeichenhaften Figuration ist am Beispiel von Blättern aus dem Jahr 1993 zu registrieren, die in sich äusserst kompliziert erscheint. Es ist, als schüfe sich der Künstler hier eine Herausforderung für plastisches Gestaltung. War eigentlich noch zu erwarten, dass Erich Hauser, der im Bereich Zeichnung so Außerordentliches geleistet hat, 1994 noch einmal zu einer neuen Vibration im Linearen finden würde? Genau das ist aber der Fall. Aus dichten Strichlagen schälen sich die aggressivsten Formteile heraus und offenbaren nun eine besondere. Doch schon 1995 interessiert den Zeichner wieder die große Zeichenhaftigkeit. Spreizung und Aufstellen und Flugbewegung dann durch das Zusammenfügen von Dreiecken. Dadurch erhält die Zeichnung sehr deutlich den Charakter eines spontan hingeschriebenen Entwurfs. Nicht ohne Bewunderung und Faszination blicken wir einem Meister der zeitgenössischen Bildhauerzeichnung über die Schulter und damit gleichzeitig in die Werkstatt.

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